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Methode Michelangelo

Betrieb & Markt
Methode Michelangelo

Werner Schledt

Folgen Sie mir heute zunächst für ein paar Minuten ins Florenz des frühen 16. Jahrhunderts: Der junge Michelangelo wechselt auf dem Weg zum Palast der Medici, von denen er einen interessanten Auftrag erwartet, ein paar Worte mit einem Adeligen, dessen markantes Gesicht ihn fasziniert. Im Weitergehen zückt er das kleine Notizbuch, das er stets bei sich trägt, und notiert: „Stirn 2, Augenpartie 7, Nase 4, Wangen 2, Mund 6, Ohren 11“. Später wird er diese Notiz einem seiner Gehilfen, vielleicht auch einem Lehrling geben, der sich dann daran macht in der Werkstatt aus den nummerierten Vorlagen unterschiedlicher Gesichtspartien, die Michelangelo selbst zusammengetragen und gezeichnet hat, eine erste Portraitskizze zu machen, indem er die notierten Varianten zusammenfügt, bevor der Meister später selbst Hand anlegt und das Bildnis unverwechselbar vollendet.
Ein Bild machen
Ob es wirklich wahr ist, was man Michelangelo zuschreibt, dass er nämlich die rationelle Methode des Zusammenfügens von katalogisierten unterschiedlichen Gesichtspartien zu einem Portrait, an Hand dessen man sich von einer Person schnell ein erstes Bild machen kann, entwickelt und damit auch das Phantombild erfunden hat, weiß ich nicht. Wichtiger ist, dass das Prinzip des Zusammenfügens verschiedener Teilelemente zu einem Gesamtbild unter dem Begriff Morphologie als Kreativitätstechnik eine der wichtigsten Methoden der Ideenfindung und Problemlösung geworden ist, die sowohl bei der Lösung technischer als auch gestalterischer und organisatorischer Probleme erfolgreich eingesetzt wird.
Für Problemlösungen
Die Lehre von den Strukturen – so etwa lässt sich der Begriff Morphologie übersetzen – kann man allerdings nur dort erfolgreich anwenden, wo die Struktur eines Problems oder zu gestaltenden Systems bekannt ist, so dass für die einzelnen Elemente vor dem Zusammenfügen zu einem Ganzen möglichst viele Teillösungen zusammengetragen werden können, wie das beim beschriebenen „Zusammenpuzzlen“ der Varianten charakteristischer Gesichtspartien der Fall ist.
Wie Leistungslohn
Ich will den erfolgreichen Einsatz dieser Methode am Beispiel der Entwicklung eines betrieblichen Leistungslohnsystems beschreiben: Wir zeichnen uns zuerst einen sog. morphologischen Kasten, ein Blatt, das senkrecht und waagrecht in kleinere Kästchen gleicher Größe aufgeteilt wird. In die Kästchen der ersten Spalte schreiben wir untereinander die einzelnen Teilaspekte des zu lösenden Problems, für die wir anschließend Lösungsansätze zusammentragen. Beim Leistungslohn sind das wohl zunächst diese sieben: 1. Wer wird beteiligt? 2. Für welche Dauer bzw. welchen Zeitraum wird jeweils berechnet? 3. Welches ist der Basis- bzw. Tariflohn? 4. Wie wird die Vorgabezeit ermittelt? 5. Wie verläuft die Prämienlinie? 6. Nach welchen Kriterien wird die Prämie verteilt? Lösungsansätze für diese Teilfragen werden wir natürlich nicht annähernd so viele finden wie Michelangelo charakteristische Augen und Ohren, aber schon dann, wenn wir für jedes der sechs Teilprobleme nur fünf brauchbare Lösungsansätze aufschreiben, lassen sich in unserem morphologischen Kasten durch Multiplizieren der Zeilensummen 15.625 Leistungslohnsysteme zusammenstellen, die sich, teils gravierend, teils nur geringfügig voneinander unterscheiden.
Bei der Frage nach der Beteiligung sind mir nur drei grundsätzliche Möglichkeiten eingefallen: Einzeln, als direkt verrechenbares Team oder das an der Arbeitsstelle tätige Team mit Beteiligung der sog. Unproduktiven. Zu 2. könnte der Abgrenzungszeitraum der einzelne Auftrag sein oder auch ein Kalendermonat bzw. andere Zeitzyklen. Zu 3. gibt es mindestens die Varianten Tariflohn, Individuallohn, übertariflicher Stundenlohn. Die Vorgabezeit zu 4. kann man aus dem Angebotspreis – mit oder ohne Material – geteilt durch den entsprechenden Stundenverrechnungssatz ermitteln, aber auch Zeitvorgaben aus Erfahrungswerten entnehmen. Auch für die Festlegung der Prämienlinie, degressiv, progressiv, gestuft, ungestuft, gibt es viele Varianten, und auch zu 6., Verteilung der Prämie, genug Möglichkeiten, wie: anteilige Arbeitsstunden am Auftrag, nach Köpfen, auf Vorschlag des Vorarbeiters. Je mehr Teillösungen, desto mehr Gesamtbilder lassen sich zusammenfügen und vergleichen.
Skizze anfordern
Bevor ich Ihnen meinen Favoriten aus dem Lösungsschema vorstelle, ein Angebot: Da im Rahmen dieser Kolumne leider keine Grafiken abgebildet werden können, ein Bild aber bekanntlich mehr als 1.000 Worte sagt, können Sie die Abbildung des beschriebenen Lösungsschemas gerne bei mir anfordern.
In dem Kasten, den Sie dann erweitern und mit dem Sie Ihr betriebsindividuelles Leistungslohnsystem aus den Teillösungen selbst zusammenstellen können, ist folgendes Modell zusammengefügt: Das System prämiiert die direkt verrechenbaren Arbeitsgruppen, und zwar pro Auftrag. Als Basis- und Garantielohn gilt der Tarif. Die Zeitvorgabe errechnet sich jeweils aus dem Angebotspreis geteilt durch den Stundenverrechnungssatz, ist also preisabhängig. Deshalb verläuft die Prämienlinie degressiv, z.B. nach der bewährten „Renner-Formel“: Einsparungszeit geteilt durch Vorgabezeit mal gebrauchte Zeit mal Stundenlohn. Die Prämien werden nach den anteiligen Arbeitsstunden an der Baustelle verteilt. Wechselt also ein Mitarbeiter die Arbeitsstelle, partizipiert er anteilig an der neuen.
Natürlich kann man das System noch mit anderen Kriterien verquicken und eleganter, aber damit auch aufwendiger machen. Mit Teilen der Prämie lassen sich z.B. auch „weiche Tugenden“, besondere Qualität oder Kundenzufriedenheit honorieren.
Mit der „Methode Michelangelo“ kriegen viele Problemlösungen ein Gesicht.
Die Prämienzahlung kann übrigens zweckmäßig nach Geldeingang erfolgen. Das verzögert zwar die Auszahlung, aber wenn das System etabliert ist, fließt ja der Leistungslohn stetig.
Wie gesagt: Auch wenn wohl nicht gesichert ist, dass die Erfindung des morphologischen Kastens tatsächlich auf Michelangelo zurückgeht, zuzutrauen wär’s diesem Genie allemal, so wie auch anderen großen Malern Unglaubliches gelang: Leonardo da Vinci entwarf nebenbei noch Flugmaschinen und Albrecht Dürer gewann einen Malwettbewerb, indem er im Gegensatz zu den Mitbewerbern einen mathematisch vollendeten Kreis frei aus der Hand zeichnete. Für dessen gelungensten Geniestreich halte ich allerdings, dass er sich bei einer Fassadenmalerei selbst so täuschend echt an die Wand gemalt hat, dass sein ungeduldiger Auftraggeber meinte, er sei auf dem Gerüst und bei der Arbeit. Aber vielleicht ist auch das nur einer der vielen schönen Malergeschichten.

PRAXISPLUS
Relevantes für die Branche entdecken, Anstöße geben, manche Dinge auf die Schippe nehmen – genau das macht Werner Schledt in seiner Kolumne „Unverdünnt aufgetragen“. Der Autor war jahrzehntelang Betriebsberater und Verbandsgeschäftsführer im hessischen Maler- und Lackiererhandwerk. Jetzt engagiert er sich als Marketingleiter der Frankfurter TREIBS Bau GmbH und schreibt aus praktischer und betrieblicher Sicht exklusiv für die Malerblatt-Leser.
Werner Schledt
TREIBS Bau GmbH
Heinrichstraße 9–11
60327 Frankfurt/Main
Tel.: (069) 750010-310
Fax: (069) 750010-340
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